LitInvolve: Geringe Literalität als Herausforderung in der Empirischen Sozialforschung
Die Studie LitInvolve zielte darauf ab, ein bisher unsystematisches und diffuses Bild von Verständnisschwierigkeiten zwischen Befragenden und Befragten im Rahmen der empirischen Sozialforschung zu klären. Konkret ging es um die Frage, wie dieses Problem mit einem Modell der Literalität systematisch erfasst werden kann und darauf aufbauend Kriterien für die Instrumentenentwicklung in der quantitativen und der qualitativen Forschung entwickelt werden können, die es ermöglichen, breite Bevölkerungskreise in Befragungen einschließen zu können.
Laufzeit: 01.04.2023-31.12.2023
Projektergebnisse
Das Projekt LitInvolve widmete sich der Fragestellung, wie Menschen mit geringer Literalität in die empirische Sozialforschung einbezogen werden können. Die Ergebnisse zeigen, dass diese Bevölkerungsgruppen oft unterrepräsentiert ist, was zu einer Vernachlässigung ihrer Perspektiven in der Forschung und der politischen Entscheidungsfindung führt. Die Diskussion über geringe Literalität umfasst nicht nur individuelle Fähigkeiten, sondern auch soziale Bedingungen. In Deutschland sind schätzungsweise 6,2 Millionen Erwachsene von geringer Literalität betroffen, was die Notwendigkeit erhöht, diese Gruppe in der Forschung zu berücksichtigen.
Forschungspodcast der ehs über das Projekt Litinvolve (Oktober 2024)
Methodisches Vorgehen
Das Projekt wurde in drei Arbeitspaketen durchgeführt:
- KI-gestützte Literaturanalyse: Hierbei wurde der aktuelle Forschungsstand zur Einbeziehung von Menschen mit geringer Literalität analysiert. Die Ergebnisse zeigten, dass es an umfassenden Studien fehlt, die sich speziell mit diesem Thema befassen.
- Triangulative Befragung von Forschenden: Diese Umfragenen ergab, dass das Verständnis von Literalität in der empirischen Sozialforschung vielfältig und oft unklar ist. Viele Forschende sind sich der unterschiedlichen Kontexte, in denen Literalität relevant ist, nicht bewusst.
- Qualitative Gruppeninterviews mit gering literalisierten Menschen: In diesen Interviews wurden Perspektiven von Menschen mit geringer Literalität gesammelt. Die Ergebnisse verdeutlichten, dass diese Personen häufig Schwierigkeiten haben, an Befragungen teilzunehmen, was ihre Sichtbarkeit in der Forschung weiter einschränkt.
Hauptergebnisse
1. Diversität der Verständnisse von Literalität
Die Analyse zeigte, dass es kein einheitliches Verständnis von Literalität gibt. Verschiedene Disziplinen definieren Literalität unterschiedlich, was zu Verwirrung und Unsicherheit bei der Einbeziehung dieser Gruppe führt. Es ist entscheidend, dass zukünftige Forschungen diese Vielfalt anerkennen und berücksichtigen.
2. Relevanz der Einbeziehung
Die Ergebnisse unterstreichen die ethische Verpflichtung, Menschen mit geringer Literalität in die empirische Sozialforschung einzubeziehen. Ihre Perspektiven sind essenziell, um soziale Ungleichheiten zu reduzieren und eine inklusive Wissensbasis zu schaffen. Eine angemessene Berücksichtigung ihrer Erfahrungen kann dazu beitragen, effektive Maßnahmen zur Förderung von Chancengleichheit zu entwickeln.
3. Herausforderungen in der Forschungspraxis
Insbesondere die qualitativen Analysen ergaben, dass die Befragungspraxis oft nicht auf die Bedürfnisse von Menschen mit geringer Literalität abgestimmt ist. Komplexe Fragestellungen und der Einsatz von Fachjargon können dazu führen, dass diese Personen sich nicht adäquat äußern können. Dies zeigt die Notwendigkeit, die Methoden der Datenerhebung zu überarbeiten und zugänglicher zu gestalten. Jedoch wurde im Projekt auch deutlich, dass die Förderlogiken und Förderumfänge eine Individualisierung von Erhebungstechniken und Erhebungsdesigns oftmals nicht zu lassen. Gelder für inklusive Projektdesigns sind oftmals nicht vorgesehen.
4. Bedeutung von Beziehungen
Insbesondere bei der Ausgestaltung qualitativer Erhebungsdesigns spielt die Beziehungsebene eine wesentliche Rolle. So sind gerade zum Beispiel auch Interviews Beziehungserlebnisse, die durch Aspekte der Literalität beeinflusst werden. Die Beziehung zwischen Forschenden und Teilnehmenden spielt eine entscheidende Rolle für den Erfolg der Datenerhebung. Forschende sollten sich der Herausforderungen bewusst sein, die sich aus der unterschiedlichen Literalität ergeben, und ihre Methoden und Erhebungsdesigns entsprechend anpassen.
Empfehlungen für die Forschung
Basierend auf den Ergebnissen formuliert das Projekt mehrere Empfehlungen:
- Schaffung eines klaren Verständnisses von Literalität: Es sollte ein einheitliches Konzept entwickelt werden, das die verschiedenen Dimensionen von Literalität erfasst.
- Methoden der Datenerhebung anpassen: Die Erhebungsmethoden sollten so gestaltet sein, dass sie den Bedürfnissen von Menschen mit geringer Literalität gerecht werden. Dies kann durch die Verwendung einfacher Sprache, klarer Instruktionen, aber auch der Einbeziehung von umfangreichen Bildmaterialien und eigens konzipierten Erklärvideos geschehen.
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern: Um ein umfassendes Verständnis von Literalität zu entwickeln, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Forschungsfeldern notwendig.
- Schulung von Forschenden:Die Ausbildung von Forschenden sollte Aspekte der Inklusion und der Berücksichtigung von Literalität stärker in den Fokus rücken.
Ausführliche Projektergebnisse finden sich im demnächst erscheinenden Discussion Paper
Warum sollte sich Empirische Sozialforschung mit geringer Literalität auseinandersetzen?
Die Aussagekraft empirischer Daten der Sozialforschung ist u.a. davon abhängig, ob repräsentative Querschnitte der Bevölkerung erreicht werden und ob ausreichend Verständnis für Fragen und Fragekontexte bei Befragungsteilnehmenden vorliegen. Zu den allgemeinen Qualitätskriterien empirischer Sozialforschung gehört es, dass sowohl Befragungstexte und -sprache sowie Settings für die verschiedenen Untersuchungsteilnehmenden verstehbar sind. Dabei entstehende Probleme werden ganz unterschiedlich gedeutet - als Sprachbarrieren, Desinteresse oder Überforderung, die auf Migration, Milieudisparitäten oder auch fehlende Lese-Schreibkompetenzen zurückgeführt werden.
Unser Interesse war es, dieses bisher unsystematisch und diffuse Bild von Verständnisschwierigkeiten zwischen Befragenden und Befragten im Rahmen der empirischen Sozialforschung zu klären. Konkret ging es um die Frage, wie dieses Problem mit einem Modell der Literalität systematisch erfasst werden kann und darauf aufbauend Kriterien für die Instrumentenentwicklung in der quantitativen und der qualitativen Forschung entwickelt werden können.
Ausgangssituation
Die Grundlagenforschung in der Empirischen Sozialforschung beschäftigt sich mit der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Instrumentarien, d.h. Erhebungs- und Auswertungsmethoden der quantitativen wie auch qualitativen Sozialforschung, sowohl auf einer thematischen als auch einer zielgruppenorientierten Ebene. Die Einbeziehung von Menschen mit geringer Literalität in Grundüberlegungen zur empirischen Sozialforschung erfolgt derzeit noch sehr vereinzelt und wenig systematisch. Dies ist u.a. auch auf die Komplexität des Themas zurückzuführen. Denn: geringe Literalität kann nicht als Definitionsmerkmal einer spezifischen sozialen Gruppe aufgefasst werden, sondern muss vielmehr in der Kombination von „Kompetenz“ und „Praktiken“ als Indikator für Verstehen, Deuten und Handeln in sozialen Situationen – z.B. die Teilnahme an einer Befragung der empirischen Sozialforschung – gesehen werden. Literalität als Grundkompetenz des Verstehens, Deutens und Handelns in sozialen Situationen beeinflusst wesentlich die basisdemokratischen Möglichkeiten von Menschen, zu denen gerade auch die Partizipation an meinungsbildenden Prozessen wie Umfragen, Interviews und Diskussionen gehört. Literalität kann dabei auf drei unterschiedlichen Ebenen analysiert werden: so umfasst die 1. Ebene das Buchstaben-, Wort- und Textverstehen, während die 2. Ebene das Situationsverstehen adressiert und die 3. Ebene das sinnvoll und verantwortungsvoll abgeleitete Handeln in den Blick nimmt. Übertragen auf die Empirische Sozialforschung bedeutet dies: Fähigkeiten auf diesen drei Ebenen sind notwendig für die schriftsprachliche Interpretationsfähigkeit, die Kontextualisierung von Fragen sowie den Transfer von Fragen auf eigene Lebensbereiche. Diese Aspekte stellen sich für Menschen mit geringer Literalität als schwierig dar. Hieraus ergeben sich für die empirische Sozialforschung unterschiedliche Implikationen, da die beiden Stränge der empirischen Sozialforschung mit unterschiedlichen Prämissen operieren: während das Ziel der quantitativen Sozialforschung meist das Generieren repräsentativer, empirischer Daten ist, legt die qualitative Sozialforschung Wert auf eine Rekonstruktion tieferliegender Meinungen und Einstellungen.
Dementsprechend spielt für die quantitative Sozialforschung vor allem das Wort- und Textverstehen der Ebene 1 (z.B. das Lesen eines Fragebogens) wie auch das Situationsverstehen der Ebene 2 (z.B. durch die Fähigkeit, sich in Vignetten und vorgegebene Situationsanalysen innerhalb eines Fragebogens hineindenken zu können) eine große Rolle. Bei der qualitativen Sozialforschung, also beispielsweise in Interview- oder Gruppendiskussionskontexten, wird sehr viel stärker die Ebene 3, also die Rekonstruktion des eigenen Handelns oder das Verständnis für das Handeln anderer Menschen in den Blick genommen.
Kontakt
Projektleitung:
Prof. Dr. Nina Weimann-Sandig, nina.weimann-sandigehs-dresden.de
Teilprojektleitung:
Johanna Schneider, johanna.schneiderehs-dresden.de
Projektmitarbeitende:
Götz Schneiderat, goetz.schneideratehs-dresden.de
Jan Schuhr, jan.schuhrehs-dresden.de
Martin Möhring, martin.moehringehs-dresden.de
Prof. em. Dr. Harald Wagner, harald.wagnerehs-dresden.de
Förderhinweis
Das Forschungsvorhaben LitInvolve wurde vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus gefördert.