Europe on a Move, Social Work in Action in Pärnu, Estland
In diesem Jahr ereilte Farina Maletz, Charlotte Gneuß, Viktoria Mosch und Claudia Nitschke das Glück, begleitet von Prof. Dr. Harald Wagner am Intensivprogramm „EMSWA“ (Europe on a Move, Social Work in Action) in Pärnu, Estland, teilzunehmen. Das EMSWA ist ein von der EU und vom DAAD gefördertes Projekt für StudentInnen der Sozialen Arbeit, dessen Ziel der Austausch über den Umgang mit sozialen Bewegungen/Problemlagen in Europa ist und jährlich einmal tagt. In diesem Jahr nahmen StudentInnen aus Deutschland, Belgien, Litauen, Estland, Finnland und England teil um sich mit dem Thema „Migration in Europe und Estonia“ auseinanderzusetzen. In Vorbereitung auf die 10 intensiven Tage im Mai machten wir uns mit den Migrations- und Emigrationschancen und -risiken unserer Herkunftsländer vertraut, waren erstaunt über Statistiken und Zahlen, führten Interviews mit Menschen, die selbst emigriert oder migriert waren, machten lange Packlisten oder gar keine, kauften Reiseführer von Estland und fanden die Sprache sehr komisch, verpassten den Zug und waren trotzdem pünktlich am Airport. Wir saßen das erste oder zum tausendsten Mal im Flugzeug, wir waren mit drei Nagelscheren in der Tasche durch den security check gekommen, wir freuten uns über DIE ZEIT for free, wir wollten am Fenster sitzen oder ganz nah an der Toilette. Wir kamen in Pärnu an. Pärnu ist eine Stadt mit 42.450 Einwohnern, die meiste Zeit im Jahr sind die Straßen sehr leer und die Anzahl der Pubs überschaubar. Im Sommer ist es Estlands Sommerresidenz, es tummeln sich dann Touristen und bunte Boote, laute Musik und Ansichtskartenverkäufer. Wir aber waren noch vor dem Sommer da.
Wir trafen die anderen StudentInnen mit Spannung am Abend der Ankunft, wir versuchten, einen guten Eindruck zu machen, entschuldigten in jedem zweiten Satz unser Englisch, lobten das Essen und gingen danach gemeinsam in eine Karaoke-Bar und mussten am nächsten Morgen viel zu früh raus. Wir mussten an jedem Morgen viel zu früh raus aus dem Viererzimmer unserer Unterkunft, wir gingen den nicht weiten, aber viel zu langen Weg zur Universität, wir saßen in Hörsälen, wir tranken Kaffee, wir aßen dreimal hintereinander Suppe und zweimal im Jachtclub. Das Programm war so intensiv, dass der Pub nicht unsere Stammbar wurde. Zu Beginn teilten wir uns in internationale Kleingruppen. Wir stellten einander unsere Länder vor und die Erkenntnisse, die wir in der Vorarbeit gewonnen hatten, wir waren erstaunt davon, dass wir es in Estland nicht mit einem Immigrations-, nicht mit einem Integrations-, nein, mit einem Emigrationsproblem zu tun hatten. Man muss sich das bildlich vorstellen: Nur 1,3 Millionen Esten. Das sind dreimal weniger Menschen, als in Berlin leben. Davon wandern jährlich Tausende ab. Die Zuzüge sind kaum der Rede wert. In den Dörfern herrschen Alter, Alkohol und Arbeitslosigkeit, junge qualifizierte Leute gehen (often abroad). Junge qualifizierte Leute sind vor allem weiblich, das bedeutet: männliche arbeitslose Landjugendliche finden keine Frauen im heiratsfähigen Alter. Exklusion in Pefektion.
Zum Intensivprogramm gehört, dass die gastgebende Hochschule den Studierenden Aufgaben stellt. Die Fragen der Hochschule Pärnu: Wie bringt man Menschen dazu, nach Estland zu ziehen? Wie bringt man Esten dazu, aus dem Ausland wieder ins Heimatland zu ziehen? Vor allem aber: Wie bringt man sie „back to the countryside“? Da also saßen wir, mit der Torschlusspanik einer aussterbenden Nation konfrontiert. Einige von uns hatten die Idee, einen TV-Spot zu entwerfen, andere fanden, dass der Nationalgedanke im 21. Jahrhundert so oder so überholt sei, und wollten sich daher erst einmal gar nicht mit der Aufgabe anfreunden. Manchmal erweitern internationale Begegnungen nicht unseren Horizont, manchmal zeigen sie uns auch nur unsere geistigen Grenzen. Vielleicht aber ist genau dies die Horizonterweiterung.
Um die Fragen der Hochschule Pärnu auch nur annähernd gut beantworten zu können, mussten wir das Land und die Menschen erst einmal kennenlernen. Unsere GastgeberInnen hatten dafür allerlei tolles organisiert: zum Beispiel ein liebevoll vorbereiteter Kochabend mit estnischer Küche und ein Tagesausflug aufs Land, nach Misso, einer kleinen Kommune, die direkt zwischen der russischen und der lettischen Grenze liegt.
Eine estnische Landpartie ist mit einer deutschen nicht gleichzusetzen, ein Dorf kann hier aus zwei Häusern bestehen, man lebt in the middle of nowhere, ein öffentlicher Nah- oder gar Fernverkehr ist undenkbar. Wir besuchten eine Schule, die täglich von 37 SchülerInnen besucht wird und mit I-Pads ausgestattet ist, wir besuchten eine Farm und durften in einem alten Bauernhof noch mehr von der guten, estnischen Küche probieren, wir besuchten einen Aussteiger, der versucht war, eine alternative Wohngemeinschaft im Nirgendwo zu errichten und dabei Melonen pflanzte, wir besuchten menschenleeres Land.
Ein Ausflug ganz anderer Natur führte uns nach Narva, einer Stadt, die wie Görlitz von einem Grenzfluss geteilt wird und in der 96% der Gesamtbevölkerung russischtämmig sind. Russisch ist hier also sprach- und kulturgebend. Von zuckersüßen Holzhäusern kann hier kaum die Rede sein, dafür kann man Farbfotos machen davon, wie es früher einmal war. Die Zuständige für internationale Verständigung dort berichtet Spannendes aus dem Alltag und der Historie der russisch-estnischen Beziehungen. Und das ist im Land ein großes Thema: Immerhin 26% der estnischen Bevölkerung sind russischstämmig.
Unser Bild von Estland wird langsam umfassender: Ein kaltes, kleines, schönes Land mit einer komplizierten, lustigen Sprache mit vierzehn Fällen. Daran ist vor allem komisch, dass die Finnen, die Esten und ausgerechnet die Ungarn dieselbe Sprachfamilie teilen. Dann die Historie sich abwechselnder Besetzer: die Deutschen, die Schweden, die Russen. Dabei jedes Mal der Versuch, zu missionieren. Jede Besatzungsmacht eine andere Besatzungsreligion. Das Ergebnis: Estland vollkommen ohne Volksreligion, nur 10% religiöse Menschen im ganzen Land. Europaweit einzigartig. Das estnische Verhältnis zu Europa: Je mehr EU, desto weniger Putin. Neben jeder estnischen Fahne eine der EU. Scheinbar sind sogar die rechtsgerichteten Parteien nicht EU-kritisch.
In einem Nebengespräch erfahren wir von einer Estin, dass sie für ihren Studentenjob 3,50€/h verdient. Ein finnischer Teilnehmer macht denselben Job und bekommt dafür 12€/h. Von diesem Einkommen auf günstige Preise in Estland zu schließen, ist leider Nonsens. Der Kaffee ist seine 2,50€ auch hier wert. Gründe für die Ausreise gibt es allgemein viele. Der „Sallery“-Grund scheint der häufigste. Über die Sozialfälle von Eltern, die im Nachbarland (z.B. in Finnland) arbeiten und ihre minderjährigen Kinder sich selbst versorgend über Monate allein zu Hause lassen, wurde seit 2009 keine Statistik mehr gemacht. Dass ist schade, findet die Leiterin der Notunterkunft, denn die Zahl hätte sich vermutlich verdoppelt.
So viele Gründe es für die Ausreise gibt, so wenige gibt es für die Einreise. Da ist auch an erster Stelle das Einkommen zu nennen. Dann der kalte, lange und vor allem dunkle Winter. Tage, an denen die Sonne kaum aufgeht, an denen es minus 30Grad gibt, an denen das Land im Schnee versinkt. Wie das Leben dann in der countryside ist, mögen wir uns nicht vorstellen, können es wohl kaum. Dann ist da noch die komplizierte Sprache mit den 14 Fällen, die keiner lernen mag, weil man sie außer in Estland ja doch nirgendwo spricht. Und dann dauert es auch noch eine Weile, in Estland anzukommen, denn die zwischenmenschliche Kultur ist keinesfalls von Überschwänglichkeit geprägt. So erklärt uns unsere Leiterin, sie würde nie auf die Idee kommen, ihre Mutter zu umarmen.
Die Fragen der Hochschule Pärnu bleiben schwer lösbar, wir versuchen uns an kleinen Lösungsmöglichkeiten, eine Summerschool auf dem Land zum Beispiel, eine besseres Schienennetz, Start-up-money für Firmen, die aufs Land ziehen.
Bald ist unser letzter Tag gekommen, wir freuen uns, endlich all die Erlebnisse verdauen zu können, wir bedauern, nicht mehr Zeit gehabt zu haben, wir haben internationale Freunde gefunden, wir haben Estland liebgewonnen, wir freuen uns auf zu Hause, wir sind voll mit Eindrücken und Gedanken, wir fragen uns, was das im Jahr 2030 für eine Welt sein wird, in der 75% der Weltbevölkerung in Städten leben wird, wir verabschieden einander und manche von uns werden sich wohl wiedersehen, und wenn nicht, dann werden sie sich vermissen.
Zum Schluss aber bleibt der Dank. An Harald Wagner für seine Organisationskunst, für seinen wertschätzenden Blick auf die Dinge, seine Unterstützung und interkulturelle Kompetenz. Und an das EMSWA-Programm und für die Chance auf einen Blickwechsel.
Herzlichsten Dank!
Charlotte Gneuß